Eigentlich wollte ich dazu nichts schreiben. Eigentlich bin ich der Meinung, daß schon alles relevante gesagt wurde, und es nun für jeden Diskutanten an der Zeit ist, sich für etwas zu entscheiden, und es durchzuziehen und mit den Konsequenzen zu leben. Eigentlich.
Und uneigentlich ist das Thema nie durch, weil immer wieder eine neue Generation junger Menschen heranwächst, die genaudieselben Fehler machen wie ihre Vorgänger (und die modernen Generationen sind nur 3 oder 4 Jahre lang). Sich zu fett finden, eine Diät nach der anderen machen, dabei und davon dick werden, das Gefühl des Nichtgenügens kultivieren und es mit Süchten (Kaufen, Drogen, Essen) kompensieren, eine Essstörung entwickeln, usw.
Deswegen einige Überlegungen, nur einige. Damit ich schlafen kann und nicht im Traum noch Argumente durchgehe und besser und besser formuliere.
Warum braucht man eine Personen-Waage? *)
- als Kontrollmechanismus für das Gewicht, mit dem Ziel, es positiv zu beeinflussen (egal ob es mehr oder weniger werden soll)
- um "Koffer zu wiegen"
- um Kinder zu wiegen
- als Deko-Objekt
- überhaupt nicht
bitte zutreffendes ankreuzen
Theorem 1:
Gewichtsbezogene Begrüßungsformeln wie "Hast Du abgenommen?" - wird mit positiver Leistung assoziiert, wobei völlig egal ist, aus welchen Gründen das Gewicht gefallen ist.
Als ich krank war, bin ich auf 57 kg abgemagert, bei 1,76 m Größe und athletischer breitschultriger Figur ist das sehr dünn. Die Reaktion der Umwelt: Siehst Du gut aus! Mir ging es mies, schwach, die Leistungsfähigkeit war im Keller. Aber das war allen egal, ich sah ja gut aus...!
Als ich Liebeskummer hatte, dasselbe, auf 61 kg runter: man, Du siehst toll aus! Ich hatte jeden Abend einen Weinkrampf, konnte nicht schlafen, nicht essen, mir ging es schlecht. Als es mir wieder besser ging und ich etwas zunahm - gleich die Verbalkeule: hast Du zugenommen - mußte aber aufpassen! Nicht etwa - geht es Dir wieder besser, Du siehst glücklich aus.
Theorem 2: Wer in Größe 36 paßt, ist ein guter Mensch, alles was drüber liegt, ist ein schlechter Mensch, der sich nicht beherrschen kann. Ich habe seit 20 Jahren eine Hose in Größe 40, die ich jeden Sommer heraushole und trage. Bin ich deswegen ein guter Mensch? Oder gar ein besserer Mensch als jemand, der das "nicht schafft"?
Theorem 3: Wer sich nicht regelmäßig wiegt, ist ein schlechter Mensch, der "es schleifen" läßt. Wer sich regelmäßig auf die Waage stellt, zeigt, daß er bereit ist Verantwortung zu übernehmen und an sich zu arbeiten.
Nur wer an sich arbeitet, ist ein guter Mensch.
Es ist egal, wer oder was man ist, was man arbeitet, leistet, schafft, solange man nicht dem gängigen Schönheitsideal entspricht, wird die Leistung nur ungern anerkannt. Es zählt nur Aussehen. Ach ja?
Dann wählen wir doch Heidi Klum zur nächsten Kanzlerin, irgendeine Siegerin einer Miss-Wahl zur Bundespräsidentin und besetzen den Rest der Ämter nach Schönheit. Und dann warten wir ab. Was immer passieren wird, wir sind selbst daran schuld... (kleiner Seitenhieb Richtung Bundestagswahl: GENAU so wird es doch gemacht! Es wird der gewählt, wer seine Nase am vorteilhaftesten präsentieren kann - und jedes Land bekommt genau die Regierung, die es verdient. Wie unten so oben.)
Theorem 4: wenn man sich nicht regelmäßig wiegt, nimmt man unweigerlich zu.
Ach ja. Ach nein. Ist das so? Ich meine - echt?
Wer sich mental abhängig macht von irgendetwas, sei es ein Gerät, eine Handlung, eine Vorgehensweise, ein geistiger Zustand, läuft Gefahr, die Sache überzubewerten, ihr ein Eigenleben zuzuschreiben, das sie garnicht verdient hat. Die Sache loslassen, sich davon befreien, ist sehr wichtig. Sonst wächst sie einem über den Kopf, ähnlich wie das Alkoholproblem dem Alkoholiker. Es lassen sich bei "Wiegeholics" ja alle Anzeichen einer Sucht erkennen, samt Entzugserscheinungen. Wie der Zwang, dringend auf jede erreichbare Waage steign zu müssen, selbst wenn man irgendwo zu Besuch ist.
Theorem 5: die unbelehrbaren, die trotz Waage nicht ab- sondern zunehmen, obwohl sie nach Theorem 3 und 4 abnehmen oder zumindest ihr Gewicht halten müßten, haben ein neues Wort erschaffen: die sogenannte fat acceptance. Damit eiern sie elegant um die Tatsache herum, daß sie ihre eigenen Ziele nicht erreichen, und verbitten sich aggressiv jede Kritik an ihnen und ihrem Lebensstil. Fat acceptance - Leute, ich akzeptiere jedweges Fett auf Rippen, Bäuche, Hintern, Schenkel, sonstwo, wenn ihr euch selbst akzeptiert!! Das ist leider die Bedingung, ohne die mache ich es nicht. Wie könnte ich - wenn die Betreffenden sich selbst nicht akzeptieren?
Damit sage ich nicht, daß es nur dicke Leute gibt, die sich selbst hassen, ich sage, es gibt zuwenige, die sich wirklich so angenommen haben wie sie sind.
Und überhaupt: fat acceptance – was für ein Wort. Ein hungernder Mensch der dritten
Welt, der zusehen muß, wie seine Felder mit Gensaatgut für den Export
bestellt werden, obwohl er dringend Nahrung fürs Überleben bräuchte, hat
dafür sicher vollstes Verständnis.
Tja, und nun?
Werft eure Waagen weg, schafft euch keine neue an, werft die Diätratgeber, Bücher und Eiweißshakes weg, eßt was ihr braucht, und gut ist.
Vor Jahren habe ich einen klugen Spruch gelesen: lebe nicht um zu essen – sondern iß um zu leben.
Ist dies am Ende das Grundproblem? Daß soviele moderne
Wohlstandsmenschen einen großen Teil ihres Wohlstands dadurch
definieren, jederzeit soviel essen zu können, wie sie wollten? Und das
auch tun (willkommen im Schlaraffenland!) – und nun über die Folgen
klagen. (Aber in keinem einzigen Märchen vom Schlaraffenland war die
Rede davon, daß dort Waagen stünden…)
Wobei bei obigem Satz egal zu sein scheint, ob jemand übergewichtig
ist oder nicht – die ständige Beschäftigung mit dem Problem, was man
gegessen hat, gerade ißt und gleich essen wird, ist zutiefst ungesund. Vielleicht könnte man durch die Abschaffung der ungesunden
Beschäftigung mit sich selbst und seinem Aussehen, das einem völlig
willkürlichen Modediktat folgt, seinen eigenen kleinen Beitrag zur
Verminderung des Welthungers leisten.
Wir Menschen sind von Natur aus gesunde schlanke Lebewesen, deren Körper ein Wunder an Effizienz und Leistungsfähigkeit ist. Wir haben die Möglichkeit, für nahrungsarme Zeiten vorzusorgen und uns einen Energiespeicher in Form von Fett zuzulegen. Sehr gut durchdacht! Weshalb man diesen Energiespeicher allerdings in unseren schlaraffenlandähnlichen Zeiten immer gutgefüllt halten muß, erschließt sich mir nicht so ganz. Die Natur hat auch nicht bedacht, daß es Menschen geben könnte, die essen und essen, und dick und dicker werden, mehr als es der Körper eigentlich überleben kann (ich führe an den hawaiianischen "Over the rainbow"-Sänger
Kamakawiwo`ole), der Überlebensvorteil der fat acceptance Verteidiger muß sich erst noch erweisen.
Und zum Abschluß noch einmal eine einfache Wahrheit:
Essen um zu leben, nicht leben um zu essen.
Salute, Sathiya
(ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Gedankengänge. Es ist doch alles schon gesagt, wenn nicht hier, dann woanders)
* Die landesweite Verbreitung von Personenwaagen ist, glaube ich, noch nicht so alt - 50er, 60er Jahre vielleicht? Und die ständige Beschäftigung mit sich selbst ebenfalls, datiert aus derselben Zeit, als mehr und mehr Zeitschriften, Modemagazine und Lifestyleblätter aufkamen (meine eigene neue Theorie dazu).
Besser als die Waagen wegzuwerfen, sollte frau die Zeitschriften, die so bunt und verlockend im Regal stehen, einfach konsequent übersehen, egal welche neueste Diät oder Fitnesswunder und Traumfigur in 3 Tagen angepriesen wird. Das ist nämlich des Pudels zweiter Kern: das Denken anderen zu überlassen und kritiklos vorgefertigte Meinungen zu übernehmen, weil es ja so bequem ist. Geistiges Schlaraffenland.
Gab es Waagen im Schlaraffenland? Waagen im Schlaraffenland habe ich erfunden... ;-) natürlich gab es keine.
Wenn ein ähnliches Märchen von einem Traumland heute erzählt werden würde, was würde darin wohl vorkommen - lauter langbeinige vollbusige verführerische Blondinen, die lasziv an teuren Autos lehnen, gelangweilt am caviar-Baguette knabbern, Champagner schlürfen und via Android die neueste Schuhcollection durchblättern, mit one-click bestellen und ansonsten außer sich die Beine zu rasieren und die Haare machen zu lassen, nicht viel zu tun haben. Außer vielleicht auf dem neuesten Riesenbildschirm die neuesten soaps und Talkshows anzusehen und dazu chips zu knabbern und Drinks zu nehmen - und oh Wunder, NICHT zuzunehmen. Ein Schlaraffenland für Frauen, die ewig wie junge Mädchen aussehen, sexy, halbdreivierrtelnackt, die alle die Schönste sind, begehrt und beliebt sind, die angehimmelt werden. Die sexy Männer reißen sich um sie, das Leben ist eine einzige pool party. Schluß mit lustig. Wir schreiben das Märchen vom Schlaraffenland neu.