Montag, 18. Februar 2013

Der Mann im Wald 2

Es ist nicht einfach. Überhaupt nicht, in keiner Weise. Ich hatte mir das anders vorgestellt. Hingehen, freundlich fragen, anbieten, meine Sachen loswerden, winkend gehen. So geht es nicht.
Die Würde des Menschen ist unantastbar, und ich hätte sie auf diese Art sowas von angetastet... vergewaltigt mit meinem Gutmenschentum.

Ein altes germanisches Sprichwort sagt: wer einem Menschen in Not hilft, ist sein Leben lang für ihn verantwortlich.
Unter diesem Aspekt sehe ich das und ich sehe nicht, wie ich kurzzeitig helfen kann, ohne mir die Verantwortung für ihn aufzuladen. Was ich nicht kann, und auch nicht will, und ich bin mir sicher, auch er wollte das nicht.

"Einsamer Mann im Wald" (siehe Post von gestern) ist übrigens kein Euphemismus für einen Mann, auf den ich ein Auge geworfen hätte, beziehungs- oder liebestechnisch, den ich dann für alle Zeiten unterhaltsmäßig durchfüttern müßte, sondern einfach nur ein älterer obdachloser Mann. Dem ich helfen möchte, wenn ich nur wüßte wie, ohne seine Würde zu verletzen.

Ich ging, von Angst geschüttelt, um die Nachmittagszeit hin zu der Schutzhütte, in der Hand eine Tasche mit einer Kleinigkeit zu essen, einem Buch und einem Blister Aspirin. Heute ist es sonnig, bei 6 °C, ein schöner Tag, kühl, aber schön. Auf dem Weg wünschte und fürchtete ich, er wäre da, nicht da, lebendig, tot, schlafend, wach, alles auf einmal. Die Jüngste sprang fröhlich vor mir her.

Auf halbem Wege kam er uns allerdings auf der anderen Straßenseite entgegen (Erleichterung, er lebt!), mit seinen Taschen in der Hand, in Decken gewickelt, stumpf vor sich hin sehend. Auf dem Weg zum Supermarkt, wo er manchmal etwas einkauft (wovon, frage ich mich wieder einmal), machte er einen Abstecher in ein Villengrundstück. Ich blieb stehen und schaute zu. Er suchte unter der Außentreppe herum. Hatten ihm die Eigentümer die Erlaubnis gegeben, dort gelegentlich seine Taschen abzustellen? Oder die leeren Flaschen einzusammeln und das Pfand einzulösen? Ich weiß es nicht, ich traute mich nicht, ihn anzusprechen. Und er lief weiter, normalen Schrittes, mit seinen Taschen, von fern nicht ernstlich krank wirkend.
Tja. Feige warst du, Sathiya, prima. Wie erklärst Du es Deiner Jüngsten?!
Wir machten uns trotzdem auf den Weg zur Schutzhütte. Ich wollte die Sachen dort lassen, die ich für ihn eingepackt hatte. Er kehrt für die Nacht dahin zurück, und wenn nicht, dann sicher morgen.

Dort angekommen, weit und breit keine Spur, auch keine Hinterlassenschaften gleich welcher Art in der Hütte. Es ist, als ob er nie dagewesen wäre. Immerhin lebt er noch, beruhige ich mich und meine Jüngste, und allzu krank sei er auch nicht, sonst hätte er ja nicht weggehen können. Es hätte aber auch sein können, daß ein anderer Mann, ein weiterer Obdachloser krank und halbtot auf der Bank hängt.
Und nun? Mit Tränen in den Augen und auf eine beschämende Art erleichtert, kam ich wieder nachhause. Die Sachen habe ich auf die Bank im Innern der Hütte gelegt, ich hoffte, das sei eine Möglichkeit, sie sicher dazulassen. Ich habe allerdings Angst, jemand würde sie stehlen oder gar wegwerfen.

Ich gehe morgen noch einmal hin.

Zutiefst unsicher, was zu tun ist und was das richtige sei, Sathiya


Warum lebt ein Mensch in den Wäldern, als Obdachloser? Ist es seine eigene Entscheidung gewesen, oder eine Frage der Notwendigkeit? Ist es ein freiwilliger Ausstieg aus der Gesellschaft, die die Menschen gnadenlos nach Effizienz und Nützlichkeit bewertet? Oder Zwang? Lebt er seine Freiheit - eine Freiheit VON ALLEM - oder erduldet er sie? Fragen über Fragen. Ich möchte ihn das gern fragen, aber was würde ich mit den Antworten anfangen? Wie würden sie mich verändern, und auch den Mann, der sie mir gibt?
Es gibt einen anderen Mann in den Straßen, noch jung, schmal, mit wilden Haaren und durchdringenden Augen. Sieht aus wie Jesus, wirklich wahr. Vielleicht ist er´s ja, wer weiß... 

Da er nicht dort war, habe ich Zeit, mir Gedanken zu machen und mich in meine Angst hineinzusteigern. Was sage ich, wenn ich von ihm gefragt werde, warum ich die Tasche mit Essen mitgebracht habe? Ob ich mein Gewissen beruhigen wolle oder ernsthaft helfen? Ob ich jemanden in seinem Elend verhöhnen wolle oder ob ich meine Lebensweise ihm aufzwingen wolle? Ob ich ihn für unglücklich halte, weil er nichts habe, und was ich ihm geben wolle, damit er wieder glücklich sei? Ob ich mich für was besseres hielte?
Doch was hätte ich getan, wenn er dagewesen wäre? Wie hätte ich ihm die Sachen angeboten? Ich hätte sie ihm ja nicht wie einem Hund hinwerfen können. Wie achtet man die Würde eines Menschen in einer solchen Situation?

Ich habe wieder an das Märchen vom Sterntaler gedacht. Ein Mädchen geht, von allen Menschen verlassen, in die Welt und weiß nicht wohin, und hat nichts außer den Kleidern, die sie am Leib trägt, und einen Kanten Brot. Da begegnen ihr verschiedene Leute, die sie alle um etwas bitten, was sie ihnen auch überläßt, bis sie schließlich auch das letzte Hemd hergibt. Nun hat sie gar nichts mehr außer sich selbst, und da läßt Gott die Sterne herabregnen, daß sie über und über damit bedeckt ist. Sie mußte erst alles hergeben, bevor sie etwas bekommen konnte. Ist das die Geschichte hinter dem einsamen Mann im Wald?
Sathiya spinnt, denken nun manche. Vielleicht ist das wahr. Eine romantische Verklärung vor lauter Angst, etwas falsch zu machen, wo der Mann doch einfach nur eine Wohnung, einen Job und eine Familie bräuchte (wirklich? das frage ich mich eben). Oder für den Anfang einen Winterunterschlupf. Aber was ich auf jeden Fall mache: ich informiere mich über die städtischen/kirchlichen/privaten Projekte, Obdachlose betreffend. Davon weiß ich viel zu wenig.


Liebe Gerlinde und castagir, danke für Eure Kommentare und Mails. Ich bin zutiefst dankbar, daß es euch nicht egal ist, vor allem Danke für Deine praktischen Ratschläge, Gerlinde. Ich hoffe, beim nächsten Mal, wenn ich ihm begegne, mehr Mut zu haben.

12 Kommentare:

  1. Sathiya - es ist wirklich NICHT einfach!
    Ausserdem kriegst Du selbst bei der ganzen Aktion - egal wie angefangen und wie endend eine DERART seelisch 'blutende Nase', dass Du mir jetzt schon leid tust!
    Auf der anderen Seite: you'll never ever know, if you never ever go. YET: it will be the hard way - a very very hard one!
    Sag' Bescheid - mein Angebot bleibt bestehen; der weiiit schwierigeren Teil verbliebe - leider - ohnehin auf Deinen Schultern!
    Ich sehe Deine Aengste und Sorgen absolut nicht als Feigheit, denn Du siehst 'Ein moegliches Gesamtbild' nicht nur die Momentaufnahme von 'instant kurzfristige Hilfe'.

    Viiiel Glueck; ich trete Dir hiermit eimerweise von Meinem ab, welches ich -trotzdem wohl habe, auch wenn ich ihm (dem Glueck) ansonsten schon auch sehr gut nachhelfe ;-)

    Gaaanz liebe Gruesse und dicken Hug,
    G.

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    1. Ich gehe hin. Ich frage. Ich biete Hilfe an. Ich kann nicht wegsehen und in einem warmen Zimmer sitzen, wenn es draußen schneit. Ist er dort - helfe ich. Wenn nicht, hat er sich womöglich selbst geholfen und ist in eine der Not-Unterkünfte gegangen.
      Alles wird gut.
      Lg, Sathiya

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  2. Was Du in dem konkreten Fall auch tun wirst, Du tust es primär für Dich. Ja, das meine ich todernst - und es ist nicht mal anseitsweise so zynisch wie es vielleicht klingt, sondern an sich eine uralte Wahrheit.

    Hab also keine Angst vor vermuteten Fehlern sondern mach das, was Dein Instinkt Dir als erstes vorgeschlagen hat - und akzeptiere wenn guter Wille eben auch mal nicht so honoriert wird wie erhofft. Das kann einem immer passieren.

    Der Instinkt ist immer für 80%-Lösungen gut, und in der Regel ist das gut genug, denn davon gibt es meist mehrere gleichwertige. Der ganze Aufwand des Bedenkens, Hinterfragens und Beleuchtens von allen Seiten macht die meisten Entscheidungen die man trifft gar nicht, oder nur minimal besser. Oder führt dazu letztlich gar nichts zu tun weil man bei der Suche nach der perfekten Lösung scheitert. Da kann man besser gleich das machen was einem urspünglich in den Sinn kam.

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    1. Sorry, entschuldige mich halb fuer's 'Anfahren' im Vorpost; Du scheinst DOCH kapiert zu haben, worum es geht! (KsD !!!)
      LG, G.

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  3. castagir: Und da hast Du absolut recht. Es ist nicht zynisch, sondern die Realität. Ich täte es für mich, für meinen Seelenfrieden, und ein wenig auch für den Mann.
    Die Sachen habe ich ja dagelassen, in der Hoffnung, daß - wer immer sie findet - es etwas bewirkt. Selbst wenn sie von einem zufälligen Spaziergänger gefunden werden.
    (prima schön geredet, was? ich schäme mich gerade meiner selbst)

    Was Du Aufwand an Bedenken, Beleuchten, Hinterfragen usw. nennst ist nur ein kleiner Teil meiner Gedanken und Gefühle, die ich hier geteilt habe. Ich suche gar nicht nach der perfekten Lösung, sondern nach mir. Und wie Du sagtest - mein erster Impuls, "etwas" zu tun (Nahrung, Decke, Schmerznittel) und nichts weiter zu fordern, noch nicht einmal einen Kontakt, wird das beste sein. Das Beste in der gegebenen Situation.

    Neuen Mut gefaßt und losgegangen, Lg, Sathiya

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  4. ;-) Sathiya ! Du musst das wirklich fuer Dich selbst ausarbeiten und entscheiden!
    Ich kann Dir nur Erfahrungswerte eigener Erlebnisse diesbezueglich vorneweg aufzaehlen (und evtl. Folge-Hilfe anbieten).

    Ausserdem danke von mir - hast versehentlich auch mir 'geholfen'; Grund: ich fragte mich immer, warum ich angeblich etwas (schon) weiss/kann, wo andere ca. gleichen Alters (noch nicht) auf gleichem Kenntnis-Stand' sind: Ich war niiie abgelenkt genug durch mein sonstiges Leben/Familie um 'etwas' auf spaeter vertagen/verschieben zu muessen, weil Leben/Familie vielleicht Vorrang hatten und/oder dieses Vorranges bedurften (= schlicht Glueck gehabt!)
    Allerdings war ich schon in der Schule 'schlimm' mit den Lehrern Denksportaufgaben zu geben, mit welchen sie absolut nicht gerechnet hatten. Diese 'Diskussionen' waren dann auch meist eigentlich ziemliche 'one-on-one' zwischen denen und mir, wobei der Rest der Schueler nur zufaellig den Vorteil von 'Abgelenktheit des Lehrers vom Lehrfach' genoss (mich deswegen auch immer vorschoben um genau 'das' zu erzielen ;-) !).
    D.h.: Die Loesungs-Suche hier war auch mir eine kleine Aufklaerung, warum ich landlaeufig als 'odd/seltsam und kompliziert' gelte.

    Gelaechter - allerdings vorneweg mit ordentlicher Verwirrung - gab es gestern Abend hier, als Hubby von seiner Dienstreise zurueck kam und dann sehr bald sich sehr verwundert ueber meine Mischung aus traurig und schlechter Laune erkundigte.
    Als ich ihm dann erklaerte, dass ich u/Liebling leider etwas angefahren habe, stand mein armer Mann total verdattert in der Kueche und meinte "Castagir? DEN Castagir? Euren/Deinen absoluten Liebling? DEINEN TOAO? Ja, Himmel, wie hast Du DAS den uebers Herz gebracht?"
    Verschaemte Erklaerung und dann kopfschuettelnd von Hubby "auweia, das konnte der arme Kerl wirklich nicht wissen, dass man da automatisch bei Dir in 'offene Messer' laeuft! Hat er kapiert, worum's geht?"
    A: " Ja, umgebe mich schliesslich nicht mit VT's !" (= gemaess einem haeufigen Satz hier wenn's um 'Pushen'/Koennen auf Hubby's Seite geht "... ich bin mir ziemlich sicher, dass ich keinen Trottel geheiratet habe!!!"

    Ich wuensch' Dir viel Glueck Sathiya; ich mache vorlaeufig vielleicht doch ein wenig 'blogger-urlaub' elsewhere/zusaetzlich/dazwischen, damit ich Euch nicht staendig auf die Zehen steige.
    Wenn Du Hilfe brauchst sag' bitte notfalls 'hinterm Vorhang' Bescheid, bitte.
    ( ;-) verlass' Dich aber vorsichtshalber nicht drauf, dass Du hier gaenzlich 'unbeobachtet' von mir bleibst; habe evtl. nur Klebestreifen ueber'm Mund/Finger ;-) )

    LG, G.



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    1. Ich bin hingegangen. Und habe ihn angesprochen. Seine Reaktion war wie schon zuvor: ignorieren, sich wegdrehen, sich hinsetzen und in Stupor versinken. Keine Reaktion. Ich hätte ebenso nicht dasein können.
      Aber - er hatte die Sachen gefunden, die ich in der Hütte gelassen hatte, und sie in seine Besitztümer eingereiht. Es war nicht viel, durfte es auch nicht, weil er alles immer mit sich führen können muß, und ich freute mich, daß er es nützlich fand. Wobei - in seiner Lage ist wohl alles nützlich.

      Ich war zwei Stunden im Wald bei -1°C. Ich lief, bewegte mich... und wieder zuhause angekommen war ich wie erfroren. Mir ist jetzt noch kalt. Wie zum Kuckuck hält er es aus, den ganzen Tag, wochenlang, monatelang in dieser Kälte zu existieren?
      Ich bin ratlos. Ich werde den Restwinter über jeden Tag hochgehen und ein Vesper mitnehmen, das ich ihm geben oder dalassen könnte. Vielleicht faßt er ja Zutrauen und antwortet. Vielleicht nur mit einem Blick.

      Alles wird gut. Sathiya

      *** Danke, Gerlinde, danke.

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    2. :-D - Daumendrueck; wird verdammt harte Knochenarbeit dessen Vertrauen zu erarbeiten!!!

      Btw., hatten hier eine Diskussion ueber 'warum Wald'. GoeGa meinte: er wuerde auch eher dorthin gehen.
      Dann kann ich mir ja vorstellen, wo ich ihm - wieder - ueber den Weg laufen wuerde (augenroll mit ;-) )
      Amuesant fand ich allerdings GoeGa's Frage nach was man denn so alles Essbares in einem Wald - ausser vielleicht 'Fleisch noch mit Beinen drann' - finden koennte. Ich glaube, da waer' ich ihm ausnahmsweise einen Tad im Vorsprung.
      Schon mein Nachbar in D. (mit 3x tgl. Tennis-Tochter) hat mich einst gefragt "Kind, was suchst Du - kaum dass die Schneedecke weg ist - mit 'ner Schuessel in der Hand in Deinem wintermueden Rasen als suchtest Du Gold?"
      Loewenzahn- und Gaensebluemchen-Knospen; leicht fritiert und Salz und Pfeffer... ich mag sie!

      Viel Glueck Sathiya - vor allem beim Balance Akt, fuer Dich 'Unakzeptables' mit seinen Wuenschen/Vorstellungen zu 'kompromissen' !

      LG, G.



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  5. Antworten
    1. Ja, bin o.k., nur er ist k.o.. Wahrscheinlich. Habe ihn heute nicht gesehen, auch keine Spur von ihm. Ist wohl irgendwo hingegangen, wo es nicht so s--kalt ist. Hoffe ich. Zumindest liegt er nicht halbtot in der Hütte. Ich sehe morgen wieder nach. Oder nicht? Vielleicht habe ich ihn verscheucht? Ihm die letzte Zufluchtsstätte genommen oder verdorben, wo er ganz für sich sein konnte?

      Das ist alles wirklich schwer. Ich habe Angst.
      Ich hoffe, HOFFE, daß alles gut wird.

      Liebe Grüße, Sathiya (deswegen ziemlich angeschlagen, und schlimme Kopfschmerzen hab ich auch)

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  6. Probier's vorlaeufig mit Rueckzug; ist Zwangsteil von Kompromis. Du kannst Halma? (= nicht nur 'sprechen' sodern tun? ;-) )

    Kopf hoch mit 'Auftragsarbeit' von hier: Dich um Dich selbst kuemmern (erinnere Dich, bitte ?!); wenn Du selbst im A **** bist, kannst Du ueberhaupt nichts schaffen; weder fuer Dich noch fuer Andere.
    .... und Dich selbst moegen - egal was Du meinst, dass Du jetzt vermeintlich 'falsch' gemacht hast - ist auch wichtig.
    Merke: ICH mag Dich; ich weiss, dass Du ein 'Pushy' sein kannst (= Nase hier selbst rotwerdenderweise fass); ich hab' schon beide Seiten dieses Effekts bei beiden von uns erlebt ... und 'ueberlebt' - DU auch; Kopf hoch!

    Grooossen Hug, liebevollen Nasenstupser und ermunternden Klaps auf den Hintern (= zaehlt von Frauen ueber 50 nicht als sex. harassment ;-) ;-) !)


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