Es ist nicht einfach. Überhaupt nicht, in keiner Weise. Ich hatte mir das anders vorgestellt. Hingehen, freundlich fragen, anbieten, meine Sachen loswerden, winkend gehen. So geht es nicht.
Die Würde des Menschen ist unantastbar, und ich hätte sie auf diese Art sowas von angetastet... vergewaltigt mit meinem Gutmenschentum.
Ein altes germanisches Sprichwort sagt: wer einem Menschen in Not hilft, ist sein Leben lang für ihn verantwortlich.
Unter diesem Aspekt sehe ich das und ich sehe nicht, wie ich kurzzeitig helfen kann, ohne mir die Verantwortung für ihn aufzuladen. Was ich nicht kann, und auch nicht will, und ich bin mir sicher, auch er wollte das nicht.
"Einsamer Mann im Wald" (siehe Post von gestern) ist übrigens kein Euphemismus für einen Mann, auf den ich ein Auge geworfen hätte, beziehungs- oder liebestechnisch, den ich dann für alle Zeiten unterhaltsmäßig durchfüttern müßte, sondern einfach nur ein älterer obdachloser Mann. Dem ich helfen möchte, wenn ich nur wüßte wie, ohne seine Würde zu verletzen.
Ich ging, von Angst geschüttelt, um die Nachmittagszeit hin zu der Schutzhütte, in der Hand eine Tasche mit einer Kleinigkeit zu essen, einem Buch und einem Blister Aspirin. Heute ist es sonnig, bei 6 °C, ein schöner Tag, kühl, aber schön. Auf dem Weg wünschte und fürchtete ich, er wäre da, nicht da, lebendig, tot, schlafend, wach, alles auf einmal. Die Jüngste sprang fröhlich vor mir her.
Auf halbem Wege kam er uns allerdings auf der anderen Straßenseite entgegen (Erleichterung, er lebt!), mit seinen Taschen in der Hand, in Decken gewickelt, stumpf vor sich hin sehend. Auf dem Weg zum Supermarkt, wo er manchmal etwas einkauft (wovon, frage ich mich wieder einmal), machte er einen Abstecher in ein Villengrundstück. Ich blieb stehen und schaute zu. Er suchte unter der Außentreppe herum. Hatten ihm die Eigentümer die Erlaubnis gegeben, dort gelegentlich seine Taschen abzustellen? Oder die leeren Flaschen einzusammeln und das Pfand einzulösen? Ich weiß es nicht, ich traute mich nicht, ihn anzusprechen. Und er lief weiter, normalen Schrittes, mit seinen Taschen, von fern nicht ernstlich krank wirkend.
Tja. Feige warst du, Sathiya, prima. Wie erklärst Du es Deiner Jüngsten?!
Wir machten uns trotzdem auf den Weg zur Schutzhütte. Ich wollte die Sachen dort lassen, die ich für ihn eingepackt hatte. Er kehrt für die Nacht dahin zurück, und wenn nicht, dann sicher morgen.
Dort angekommen, weit und breit keine Spur, auch keine Hinterlassenschaften gleich welcher Art in der Hütte. Es ist, als ob er nie dagewesen wäre. Immerhin lebt er noch, beruhige ich mich und meine Jüngste, und allzu krank sei er auch nicht, sonst hätte er ja nicht weggehen können. Es hätte aber auch sein können, daß ein anderer Mann, ein weiterer Obdachloser krank und halbtot auf der Bank hängt.
Und nun? Mit Tränen in den Augen und auf eine beschämende Art erleichtert, kam ich wieder nachhause. Die Sachen habe ich auf die Bank im Innern der Hütte gelegt, ich hoffte, das sei eine Möglichkeit, sie sicher dazulassen. Ich habe allerdings Angst, jemand würde sie stehlen oder gar wegwerfen.
Ich gehe morgen noch einmal hin.
Zutiefst unsicher, was zu tun ist und was das richtige sei,
Sathiya
Warum lebt ein Mensch in den Wäldern, als Obdachloser? Ist es seine eigene Entscheidung gewesen, oder eine Frage der Notwendigkeit? Ist es ein freiwilliger Ausstieg aus der Gesellschaft, die die Menschen gnadenlos nach Effizienz und Nützlichkeit bewertet? Oder Zwang? Lebt er seine Freiheit - eine Freiheit VON ALLEM - oder erduldet er sie? Fragen über Fragen. Ich möchte ihn das gern fragen, aber was würde ich mit den Antworten anfangen? Wie würden sie mich verändern, und auch den Mann, der sie mir gibt?
Es gibt einen anderen Mann in den Straßen, noch jung, schmal, mit wilden Haaren und durchdringenden Augen. Sieht aus wie Jesus, wirklich wahr. Vielleicht ist er´s ja, wer weiß...
Da er nicht dort war, habe ich Zeit, mir Gedanken zu machen und mich in meine Angst hineinzusteigern. Was sage ich, wenn ich von ihm gefragt werde, warum ich die Tasche mit Essen mitgebracht habe? Ob ich mein Gewissen beruhigen wolle oder ernsthaft helfen? Ob ich jemanden in seinem Elend verhöhnen wolle oder ob ich meine Lebensweise ihm aufzwingen wolle? Ob ich ihn für unglücklich halte, weil er nichts habe, und was ich ihm geben wolle, damit er wieder glücklich sei? Ob ich mich für was besseres hielte?
Doch was hätte ich getan, wenn er dagewesen wäre? Wie hätte ich ihm die Sachen angeboten? Ich hätte sie ihm ja nicht wie einem Hund hinwerfen können. Wie achtet man die Würde eines Menschen in einer solchen Situation?
Ich habe wieder an das Märchen vom Sterntaler gedacht. Ein Mädchen geht, von allen Menschen verlassen, in die Welt und weiß nicht wohin, und hat nichts außer den Kleidern, die sie am Leib trägt, und einen Kanten Brot. Da begegnen ihr verschiedene Leute, die sie alle um etwas bitten, was sie ihnen auch überläßt, bis sie schließlich auch das letzte Hemd hergibt. Nun hat sie gar nichts mehr außer sich selbst, und da läßt Gott die Sterne herabregnen, daß sie über und über damit bedeckt ist. Sie mußte erst alles hergeben, bevor sie etwas bekommen konnte. Ist das die Geschichte hinter dem einsamen Mann im Wald?
Sathiya spinnt, denken nun manche. Vielleicht ist das wahr. Eine romantische Verklärung vor lauter Angst, etwas falsch zu machen, wo der Mann doch einfach nur eine Wohnung, einen Job und eine Familie bräuchte (wirklich? das frage ich mich eben). Oder für den Anfang einen Winterunterschlupf. Aber was ich auf jeden Fall mache: ich informiere mich über die städtischen/kirchlichen/privaten Projekte, Obdachlose betreffend. Davon weiß ich viel zu wenig.
Liebe Gerlinde und castagir, danke für Eure Kommentare und Mails. Ich bin zutiefst dankbar, daß es euch nicht egal ist, vor allem Danke für Deine praktischen Ratschläge, Gerlinde. Ich hoffe, beim nächsten Mal, wenn ich ihm begegne, mehr Mut zu haben.